31. März 2021


Ohne Obdach. Ohne Würde


Obdachlosigkeit wird in reichen Industriestaaten gerne totgeschwiegen, obwohl sich viele Länder in ihren Verfassungen ähnlich wie die Schweiz mit dem Diktum «… dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwächsten ...» brüsten. Aus den USA kommt ein Konzept, wie man der Obdachlosigkeit sozialpolitisch begegnen kann. Doch das kostet.


«Housing first» (Wohnung zuerst) nennt sich eine relativ neue Idee der US-amerikanischen Sozialpolitik für den Umgang mit Obdachlosen, die in den USA eine zahlenmässig grosse Herausforderung darstellen. Gegen 600 000 Menschen leben im «Land of the Free» auf der Strasse. Diverse Hilfswerke versuchen, ihnen wenigstens das Nötigste zukommen zu lassen und ab und zu eine Übernachtung in einer Notunterkunft zu ermöglichen. Housing first setzt nun den Fokus anders. Die Leute sollen nicht einfach Nothilfe erhalten, sondern zuallererst eine eigene Wohnung. Denn Nothilfe ist zwar gut gemeint, löst jedoch keine Probleme, sondern verlängert sie bloss.

Die Idee hinter der eigenen Wohnung ist, dass sich Menschen erst dann mit den Schwierigkeiten in ihrem Leben, die allenfalls auch zu ihrer Obdachlosigkeit geführt haben, auseinandersetzen können, wenn sie eine sichere Wohnung haben und nicht jeden Abend überlegen müssen, wo sie die Nacht verbringen sollen. Wichtig ist dabei auch, dass sich die Obdachlosen nicht dafür qualifizieren müssen – etwa durch einen Drogen- oder Alkoholentzug –, um eine Unterkunft zu erhalten, sondern sie bekommen sie bedingungslos. Denn auch ein Drogenentzug hat grössere Chancen, wenn es wieder einen Lichtblick gibt im Leben, als wenn man hoffnungslos auf der Gasse lebt. Wer in eine Wohnung ziehen konnte und sich entschliesst, seine Probleme anzugehen, kann freiwillig entsprechende Programme und Unterstützung in Anspruch nehmen. Und wer weiter Suchtmittel konsumieren möchte, darf dies – nach bestimmten, festgesetzten Regeln – auch in der neuen Wohnung tun.


Finnland geht voran

Die Kommunen, die dem Problem Obdachlosigkeit nach dem Ansatz von Housing first begegnen, sorgen dafür, dass sich genügend Sozialwohnungen in ihrem Besitz befinden. Kein einfaches Unterfangen heute, wo günstiger Wohnraum in vielen Städten immer rarer wird. Oftmals können aber beispielsweise ehemalige Notunterkünfte in Sozialwohnungen umfunktioniert werden, weil es sie nicht mehr braucht. Finnland ist in Europa der Vorzeigestaat, wenn es um Housing first geht, aber auch andere europäische Länder wenden das Konzept punktuell an.

Seit mehr als zehn Jahren verfolgt man in Finnland den neuen Ansatz konsequent – und mit grossem Erfolg. Zwischen 2008 und 2015 sank die Zahl der langfristig obdachlosen Menschen um 35 Prozent. Dafür hat der finnische Staat Geld in die Hand genommen und gebaut. Es entstanden einerseits Standardwohnungen, die in den Gemeinden verteilt liegen, wie auch Mehrfamilienhäuser, in denen betreutes Wohnen für ehemalige Langzeitobdachlose angeboten wird. Die Bewohner*innen haben Mietverträge und zahlen für ihre Unterkünfte einen Mietzins. So erhalten sie auch ein Stück Würde und Verantwortung für ihr Leben zurück. Und obwohl in Finnland viel Geld in Housing first gesteckt wurde, rechnet sich das Modell. Denn Obdachlose, die auf der Strasse leben, kosten Hilfsprojekte, Polizei, Krankenhäuser und Gerichte insgesamt mehr.

Leider fällt die Rechnung nicht in allen Ländern, die Housing first gerne anbieten würden, positiv aus. Im deutschen Sozialsystem etwa werden den Anbietern die Kosten für ihre Hilfe vom jeweiligen Landschaftsverband erstattet. Bei Housing first sind die Leistungen des Hilfswerks kleiner, die Kostendeckung damit auch und deshalb das System unattraktiv. Düsseldorf macht es trotzdem und hat in wenigen Jahren bereits 54 Menschen untergebracht, die mittlerweile schon fast wieder ein bürgerliches Leben führen. Forscher*innen nennen das Drehtüreffekt. Wer in einer Notunterkunft lebt, weiss, dass er oder sie dort irgendwann wieder ausziehen muss, Er beschafft sich keine Möbel und kommt damit auch innerlich nie richtig an. Wer hingegen in einer eigenen Wohnung lebt, hat neben anderen Erfolgen auch die grösseren Chancen, irgendwann wieder eine Arbeit zu finden.


Erfolgsmodell kontrolliertes Trinken

Doch warum dürfen die ehemaligen Obdachlosen in ihren neuen Wohnungen Alkohol trinken? Weil die völlige Abstinenz, die lange als das Mass aller Dinge für ein Entkommen aus der Sucht galt, in vielen Fällen als unrealistisch entpuppt hat. Viele Suchtberatende therapieren Betroffene deshalb seit einigen Jahren nach dem Konzept des «kontrollierten Trinkens». Dabei steht die Eigenverantwortung der Patient*innen an oberster Stelle. Gerade für Menschen, die jahrelang süchtig waren und – zumindest zeitweise – auf der Strasse gelebt haben, ist eine solche offene Therapieform erfolgversprechend, weil sie in kleinen Schritten gehen müssen – zurück zu mehr Struktur in ihrem Leben. Den Erfolg des Konzepts dokumentieren Studien bereits seit den 1970er-Jahren.

Es ist immer wieder erstaunlich, von Betroffenen zu hören, wie rasch man selbst in der reichen Schweiz auf der Strasse landet. Oftmals genügt dafür schon, dass ein Mensch arbeitslos wird und eine neue, vielleicht günstigere Wohnung sucht. Aber ohne Arbeitsvertrag ist es in der Schweiz fast nicht möglich, eine Wohnung zu mieten. Kommen dann noch Betreibungen hinzu, wird es erst recht schier unmöglich. Und auch wer Sozialhilfe bezieht, ist nicht auf der sicheren Seite. Wohnungslose Sozialhilfebezüger*innen sollten von der Gebergemeinde eine günstige Unterkunft zu Verfügung gestellt erhalten, wenn ihre eigenen Bemühungen, eine Wohnung zu finden, erfolglos waren. Doch in vielen Gemeinden ist das Angebot an Sozialwohnungen schlicht zu klein.



Obdachlose in der Schweiz

Es gibt in der Schweiz – aber auch in anderen Ländern Europas – keine genauen Angaben dazu, wie viele Obdachlose es gibt. Matthias Drilling von der Fachhochschule Nordwestschweiz, der zum Thema forscht, geht davon aus, dass «man es gar nicht wissen möchte, denn das würde den Sozialstaat in Zugzwang bringen». Ein Problem, dessen Ausmass man nicht kennt, muss man nicht lösen.

Was man hingegen aus einer 2014 veröffentlichten Studie der Psychiatrisch-Psychologischen Poliklinik Zürich weiss, ist, dass 96 Prozent der befragten Obdachlosen unter psychischen Erkrankungen leiden; dazu gehören auch Suchterkrankungen.

Eigentlich ist Wohnen ein Menschenrecht. Die Schweizerische Bundesverfassung hat das Recht auf Wohnen aber nicht in den Grundrechten festgeschrieben Deshalb ist es in der Schweiz nicht einklagbar. Basel-Stadt hat 2018 über die Volksinitiative «Recht auf Wohnen» abgestimmt und sie mit 57,4 Prozent angenommen.

Einer, der das Leben als Obdachloser immerhin annähernd kennt und in einem Buch festgehalten hat, ist Matthias Unterwegs (der Name ist ein Pseudonym). Der Theologe und Psychologe hat zwei Monate freiwillig in Deutschland und Frankreich auf der Strasse gelebt. Er schreibt in seinem Buch: «Dieses Über-einen-Hinweg-sehen, das ist schwierig. Du bist nichts. Du bist nicht.»


Ohne Obdach Leben auf der Strae Amazonde Matthias Unterwegs Bcher


Matthias Unterwegs:

Ohne Obdach

Leben auf der Strasse

Engelsdorfer, Leipzig 2016

ISBN 978-3-96008-433-4



1. März 2021



Grenzen setzen

150 Grenzkonflikte weltweit zählt Wikipedia Anfang 2021 unter dem Titel «Liste der Territorialstreitigkeiten». 14 davon spielen sich in Europa ab, 5 zwischen Staaten und subnationalen Entitäten, 19 zwischen politischen Einheiten mit Staatsanspruch, die sich gegenseitig nicht anerkennen. 145 Grenzkonflikte, die von 195 von der Uno anerkannten Staaten und 9 Territorien, bei denen der Status Staat umstritten ist, ausgehen. Nicht wenige davon gehen auf den Europäischen Kolonialismus zurück. Nicht eingerechnet sind dabei Separatismus- oder Sezessionsbestrebungen.


 

7. Februar 2021

 

Die Würde der Frau ist noch immer antastbar

50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz und man will uns weismachen, das sei ein Grund zum Jubeln. Das Gegenteil ist der Fall. 50 Jahre Frauenstimmrecht bedeuten 123 Jahre kein Stimmrecht für die Frauen und somit ein eklatanter Verstoss gegen die Menschenrechte – immerhin basierte die erste Verfassung der Schweiz u. a. auf dem Gedankengut der Französischen Revolution. Dieser Verstoss hielt auch nach der Einführung des Frauenstimmrechts noch an. Erst zehn Jahre später, 1981, wurde die Gleichstellung der Geschlechter in der Schweizer Bundesverfassung verankert. Erst seit 2004 ist überdies Gewalt in der Ehe in der Schweiz ein Offizialdelikt und noch 2021 ist gleicher Lohn für gleiche Arbeit in diesem Land, in dem noch immer alle vier Wochen eine Frau von ihrem Partner getötet wird, ein frommer Wunsch.

Sollen wir also tatsächlich Brosamen feiern, die uns als milde Gabe hingeworfen werden? Sollte 2021 nicht eher ein Jahr des Zorns werden? Ein Jahr auch der Nachbesserungen, Wiedergutmachung und der offiziellen Entschuldigung für das Unrecht, das den Schweizer Frauen angetan wurde und noch immer angetan wird? Eine offizielle Entschuldigung bei den Frauen schmälert vorangehende offizielle Entschuldigungen nicht. Denn auch sie wurden notwendig, weil die offizielle Schweiz gegen die Menschenrechte verstossen hat. Jeder Verstoss eine Entschuldigung. Das ist das Mindeste.


 

6. Februar 2021


Eine für alle

Die weitläufige Anlage des Altersheims mit Park ist wie ausgestorben. Menschenleer auch die grosse Cafeteria, die weiten Gänge und ausserdem kein einziges Gesicht an den Fenstern oder auf den Balkonen. Eine halbe Stunde Besuchszeit haben wir erhalten, in einem öden Raum, der bis auf zwei Tische, vier Stühle und einen Wandbehang, der die Würde der Bewohnenden verspottet, nichts enthält, was etwas Gemütlichkeit entstehen lassen könnte. Anderthalb Meter Abstand und strikte Maskenpflicht. Schwierig, wenn die hundertjährige Besuchte kaum noch etwas hört, davor wochenlang keine Besuche empfangen konnte und monatelang nicht mehr umarmt wurde. Über die Bedeutung von Berührungen ist heute schon genug bekannt – auch wenn noch lange nicht jedes Detail erforscht ist. 

Ist das noch ein Leben?

«Die vielen Toten sind eine Folge des Mangels an Demut und Selbstkritik», so Schriftsteller Lukas Bärfuss gleichentags im Tages Anzeiger über den Umgang der Schweiz mit dem Corona-Virus. Die Vermögen der 300 reichsten Schweizer und Schweizerinnen hingegen legten im Laufe des vergangenen Jahres während der Corona-Krise um 5 Milliarden Franken zu und belaufen sich aktuell auf insgesamt 707 Milliarden, so das Wirtschaftsmagazin Bilanz vom 26. November 2020.

Gleichentags gucke ich eine Dokumentation über das Leben und Wirken der verstorbenen US-Richterin Ruth Bader Ginsburg. Es ist schier unglaublich, was diese Person alleine mit ihrer Arbeit, ihrem unermüdlichen Einsatz und ihrer gewinnenden Art alles erreicht hat. Für die Menschen in ihrem Land, für die Gerechtigkeit und die Freiheit. Ihr Glanz reicht weit über das grosse Land USA hinaus.